Page 6 - Renate Zawrel: Zuckerwatte und Christbaumherz
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1. Kapitel
»Hannah!«, brüllte eine Stimme aus dem Untergeschoss. »Wo steckst
Urheberrechtlich geschütztes Material
du Trödlerin schon wieder? Dein Bus wartet nicht ewig. Wenn du zu
spät kommst, kannst du zum Weihnachtsmarkt laufen.« Georgina
Häusler, die Leiterin des Waisenhauses, hätte vielleicht noch weiter
herumgeschrien, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken.
»Wa … wa … was ist das heute wieder? Wie … siehst du aus? So
kannst du …«, stammelte sie schließlich nur und schnappte nach
Luft. Mittlerweile war sie einiges von Hannah gewohnt, aber das
heutige Outfit der jungen Lehrerin war nach ihrer Meinung die
reinste Katastrophe.
Zwei Stufen auf einmal herabspringend, eilte Hannah durch die
Eingangshalle in Richtung Haustor. Allerdings wirkte sie eher gut
gelaunt, denn gehetzt.
Mit einem Gesichtsausdruck, der Bände sprach, erwartete die
Heimleiterin den personifizierten ›Kleidungs-Ausnahmezustand‹ an
der Pforte. Ihr eigenes Outfit stand in krassem Gegensatz zum
Aufzug der jungen Frau: Dunkelgrauer Bleistiftrock sowie beige
Altdamenbluse. Auf Georginas Wangen brannten hektische rote
Flecke. Sie schwenkte den schweren Schlüsselbund. Das Klirren der
Schlüssel klang geradezu melodisch, anders jedenfalls als Georginas
aufgeregte Stimme: »So gehst du mir nicht aus dem Haus!«
Um die Wichtigkeit des Satzes zu unterstreichen, drohte die
Heimleiterin mit erhobenem Zeigefinger. Das Schlüsselrasseln und
die Drohgebärde ließen sich jedoch nicht auf eine Hand vereinen:
Mit lautem Geräusch, als würden zig Flaschen zerbersten, schlug der
Bund auf dem Fliesenboden auf.
Hannah bückte sich danach, reichte es Georgina mit einem Lächeln und
erinnerte: »Sie wissen doch, dass ich kommen, gehen und mich kleiden
kann wie es mir beliebt. Ich bin schon lange volljährig.«
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