Page 9 - Barbara Naziri: Scheherazades Kinder - Geschichten zu Grenzgängern
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tolerant und darum wollten sie mich selbst entscheiden las-
sen, wenn ich mental dazu in der Lage war. Mir passte das
eigentlich nicht so sehr, dass ich mich einer Glaubensge-
meinschaft anschließen sollte. Ich kannte die Synagoge wie
auch die Moschee, fühlte mich heimisch mit den Bräuchen
und Festen, aber ehrlich gesagt zu keiner so richtig hinge-
zogen. Ich wusste, Jüdin war ich schon vom Matriarchat
her. Um meinem Vater aber eine Freude zu machen und
weil Ali aus einem muslimischen Hause kam, entschied ich
mich für den Islam. Ali war mittlerweile zwölf Jahre alt und
freute sich sehr über meinen Entschluss. Ich muss aller-
dings ehrlich zugeben, dass ich keinen Eifer in den Religi-
onsstunden an den Tag legte. Das hat sich bis heute nicht
geändert. Ich fühle mich keiner Religion richtig verbunden,
aber ich glaube an Menschlichkeit und Liebe.
Unsere Kindheit verging wie im Flug. Alis Mutter starb
ganz plötzlich an einer schweren Krankheit und in das Haus
zog Trauer ein. Ali Babas Lächeln war wie weggewischt und
starb mit ihr an diesem Tag. Er zog sich zurück und wurde
stiller. Mit wahrem Eifer warf er sich auf alle Lehrbücher,
die sich auf seinem Schreibtisch türmten, und beschäftigte
sich intensiv mit Mathematik und Physik. Das waren Fä-
cher, die mich die Flucht ergreifen ließen. In seinem Eltern-
haus war es so still, dass sich die Trauer stets wie ein schwe-
rer Stein auf mein Gemüt legte, sobald ich dort eintrat.
Hilflos musste ich mit ansehen, wie Ali Baba immer melan-
cholischer wurde. Ich spürte seinen Schmerz um den erlit-
tenen Verlust fast körperlich, denn bei seinem Anblick zog
sich mir stets das Herz zusammen. Er war so einsam und er
wollte es auch bleiben, denn seine Besuche bei uns wurden
immer weniger. Sein Vater war viel unterwegs, flüchtete vor
dem leeren Haus, und sein Bruder Ahmad lebte mittler-
weile in Amerika und studierte dort.
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