Page 12 - Renate Zawrel: Zuckerwatte und Christbaumherz
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»Die Schönen und Reichen!«, kommentierte er in Gedanken. »Sie
glauben eher an ein Verbrechen, als dass sie die Schuld bei sich
suchen.« Wenn der Junge den Markt tatsächlich erreicht hatte, stand
er gewiss vor dem verschlossenen Stand und wusste nicht, wie er ins
Urheberrechtlich geschütztes Material
Hotel zurückgelangen sollte.
Wahrscheinlicher war indessen, dass er sich in den Straßen Wiens
verlaufen hatte oder in der Straßenbahn saß und damit umherfuhr.
Nun ja, er würde sich der Sache schon jetzt annehmen, obgleich die
Suche nach Kindern erst nach Ablauf einer bestimmten Frist
gestartet wurde. Vielleicht dauerte der Einsatz ja nicht lange. Das
Wetter war alles andere als einladend und das Letzte, das er während
seines Dienstes brauchen konnte, war ein erfrorenes Kind.
Martha machte sich Vorwürfe, nicht ausreichend auf David
aufgepasst zu haben. Tränen traten ihr in ihre Augen, wenn sie an die
Äußerung des Jungen dachte, dass Dad ihn nicht liebe, dass es besser
sei, wenn er fortginge. Hatte er das wahr gemacht? Ging es gar nicht
um Hannah? David war für sein Alter viel zu ›erwachsen‹, überlegte
sein Tun, suchte Wege, um ans Ziel zu gelangen, war aber dennoch
nur ein hilfloses Kind. »Wenn ihm etwas zugestoßen ist … ich weiß
nicht, was ich dann tun soll«, rief sie verzweifelt aus.
»Wird schon nichts passiert sein«, tröstete Daniel.
Sie befanden sich auf dem Weg zum Christkindlmarkt. Es gelang ihm
zwar nicht, seine Nervosität zu verbergen – schließlich war sein Sohn
verschwunden – aber er ließ seinen Emotionen weniger freien Lauf
als Martha.
Im Laufschritt bewegte er sich in Richtung Straßenbahn, ungeachtet
der Schmerzen in seinem Fuß. Martha vermochte ihm kaum zu
folgen. Es herrschte Frühverkehr. Die Wiener befanden sich auf dem
Weg zu ihren Arbeitsstätten, die Straßenbahn war dicht besetzt. Die
Menschen drängten sich aneinander wie Sardinen in einer Dose und
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