Page 5 - Barbara Naziri: Scheherazades Kinder - Geschichten zu Grenzgängern
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Ali Baba
aum konnte ich auf den Beinen stehen, wollte ich die
KWelt erforschen – mit aller Macht. Ich war ein wildes
Kind mit einem starken Willen. Meine Eltern hatten ihre
liebe Not mit mir. Da ich ihnen oft ausbüxte, erhielt ich
kurzerhand ein Brustgeschirr, wie es die Blindenhunde tra-
gen. Allerdings bimmelte vorne an meiner Brust auch noch
ein Glöckchen, sodass ich nicht nur gefesselt, sondern auch
noch weithin hörbar dahintrabte. So lief ich fast zweiein-
halb Jahre zur allgemeinen Belustigung an der Leine. Ko-
mischerweise kann ich mich noch heute gut an das Glöck-
chen erinnern und ebenso an das weiße Laufgeschirr. Seit-
dem hat mich niemand mehr an die Leine genommen! Als
meine Eltern mir endlich erlaubten, die Welt ohne Schutz-
leine zu erforschen, kletterte ich wie ein Eichhörnchen flink
auf jeden Baum, um endlich freie Sicht auf die Welt zu
haben. Klettern wurde zu meiner Lieblingsbeschäftigung.
Ich zerriss so manches Kleid und bekam von meiner Mutter
eine Lederhose verpasst, die mein Vater von einer Ge-
schäftsreise aus Bayern mitgebracht hatte. Das erregte hier
an der Küste schon einiges an Aufsehen. Doch das war mir
egal, Hauptsache, ich konnte mich frei bewegen.
Eines Tages – ich war gerade sieben Jahre alt – turnte
ich wieder einmal in meinem Lieblingsbaum herum. Seine
kräftigen Äste reichten weit hinunter bis zum Kanal, an den
unser Garten grenzte. Plötzlich kletterte, behände wie ein
Äffchen, ein Junge zu mir nach oben. Sein Haar war kohl-
rabenschwarz, dunkler noch als meines, aber seine Haut
schimmerte in einem goldbraunen Ton. Im Gegensatz zu
meinen runden blauen Augen waren seine wie tiefdunkler
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