Page 10 - Barbara Naziri: Scheherazades Kinder - Geschichten zu Grenzgängern
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Der zweite Schicksalsschlag traf mich unvermittelt. Ob-
wohl mein Vater mitten im Leben stand, hatte er des Öfte-
ren über Herzprobleme geklagt. Kurz vor meinem sech-
zehnten Geburtstag starb er urplötzlich und meine kleine
heile Welt zerbrach in Scherben. Meine Mutter – einst stark
und lebendig – war nur noch ein Häuflein Elend, denn die
Ehe meiner Eltern konnte man als glücklich bezeichnen.
Das hatten wir Kinder auch stets zu spüren bekommen.
Mein Bruder war noch so jung, und so nahm ich die Beerdi-
gung in die Hand. Ich war so beschäftigt damit, dass ich
nicht einmal ihn trösten konnte, brauchte ich den Trost
doch dringend selbst. Die Verwandten meiner Mutter hiel-
ten mich für hartherzig, weil ich kaum eine Träne vergoss
und in ihren Augen starr funktionierte. Anders hätte ich
nicht durchgehalten. Nur nachts, wenn ich allein im Bett
lag, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Plötzlich war Ali
Baba wieder da, nahm mich einfach nur wortlos in die Arme.
Allein seine Anwesenheit gab mir Halt in diesen dunklen
Tagen.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Mein Leben ge-
riet aus der Bahn. Während Ali Baba wie ein Besessener
über seinen Büchern saß und lernte, trieb ich mich herum,
ging zwar zur Schule, aber freudlos und halbherzig.
Mein Elternhaus war mir durch den Tod des Vaters
fremd geworden. Meine Mutter war in ihre Trauer vergra-
ben und übersah dabei, dass auch ihre Kinder litten. Ich
hatte nur den einen Wunsch fortzugehen, wusste aber
nicht, wohin. Da lernte ich Bülent kennen. Bülent war er-
heblich älter als ich mit meinen damals siebzehn Jahren.
Sein Interesse an meiner Person schmeichelte meiner Eitel-
keit und ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich mich ein-
fach nur verlieben wollte, um von zu Hause fortzukommen.
Nach einem Jahr machte er mir einen Heiratsantrag. Er
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