Page 10 - Wolfgang A. Gogolin: Als Jesus aus den Wolken fiel
P. 10

Die Schwarzbunte ihrerseits fand, dass die Wimpernfliege störend, ner-
            vig und unfassbar lästig daherkam. Gretel zwinkerte. Das Brummbiest
            verzog sich kurz und nahm erneut Anlauf. Schwirrte, sirrte und erwischte
            einen  Moment der Unachtsamkeit.  Niederlassen  auf dem  Augenrand.
            Feuchter Vorhof zum Eigentlichen, dem Auge. Sie fuhr den Rüssel aus.
            Salzig. Nass. Lecker. Gretel riss den Kopf hoch und schüttelte sich, muhte,
            ohne jedoch das Kauen zu unterbrechen. Ein Balanceakt der besonderen
            Art, denn Aufhören ging gar nicht – die Mägen sollten schließlich gefüllt
            werden. Um aber das Kopfschütteln zu generieren, musste sie mit dem
            Schwanzschwenken aufhören. Für Multitasking war ein Hausrind nicht
            geschaffen. Erneutes Schütteln unter Vernachlässigung der Schweifbe-
            wegung.  Die  Wimpernfliege  raste  hoch.  Ratloses  Fliegen.  Wohin jetzt?
            Der Hintern der Schwarzbunten wurde gerade nicht bepeitscht. Perfekt.
            Neues, altes Zielgebiet erfasst. Hin zum partiell verkrusteten Hinterteil.
            Brauner Crunch. Besaßen Fliegen Verstand? Wer setzte sich freiwillig auf
            Reste von ehemaligem Gras, das zerkaut, vorverdaut, wiedergekäut, im
            Darm verdickt und als feuchter, stinkender Fladen ausgeschieden wurde?
            Das fehlende Nervensystem  in  zentraler  Form ließ nur  Instinkte  zu.
            Offensichtlich fehlte die verstandesmäßige Bewertung, denn Logik setzte
            sich nicht auf Scheiße.
             Der Schwirrer platzierte sich im Braun und begann damit, das Objekt
            seiner Begierde zu verspachteln. Er hatte viele Mitesser. Ein großes
            Fressen samt Krabbelei. Kannten Fliegen wenigstens Angst? Waren
            auch sie Goethes arme Teufel? Angesichts des Nervpotentials, mit
            dem sie Mensch und Tier traktieren, könnte der Eindruck entstehen,
            sie hätten etwas mit Satan gemein. Aber Angst? Möglicherweise mehr
            ein Unwohlsein aus innerer Quelle. In diesem Augenblick trogen alle
            Instinkte. Die Fliegenmenge wähnte sich in Sicherheit. Gretel erach-
            tete die Nascherei am Hintern als exorbitant unerquicklich. Sie zückte
            die Schwanzwaffe und schlug mit voller Wucht zu. Massensterben an
            den Backen. Die Fliegen fielen ins Gras. Ein Teil davon musste den
            Weg  über  die  Regenbogenbrücke  nehmen.  Und  Gretel?  Keine  Reue.
            Kein Mitleid. Nur die Wahrnehmung: niemand mehr am Achtern. Die
            Schwarzbunte ging für ein vorzügliches Stückchen Grün einen Schritt
            zurück und besiegelte damit das Schicksal der letzten ohnmächtigen
            Nervensägen. Eine spezielle Art der Grausamkeit? Nein, so etwas lag
            ihr nicht im Blut.


            12
   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14   15