Page 12 - Wolfgang A. Gogolin: Als Jesus aus den Wolken fiel
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samt Frikadelle und für dich was zum Knuspern und ein Wasser. Was
            meinst du, freuen wir uns darauf?« Hermann schaute auf die Hündin.
            Augenkontakt. Mensch und Hündin im Einklang. Früher hätte sie geant-
            wortet. Mit einem Bellen oder Knurren. In jedem Fall mit Geräusch, doch
            seit Emmas Tod war Molly verstummt. Die einzig richtige Reaktion auf
            die Unsäglichkeit des Frauchenverlusts, dachte Hermann oft. Er fragte
            sich, warum er selbst nicht verstummt war, als Emma starb. Gleichzeitig
            gehen – davon war er ausgegangen. So weit der persönliche Plan. Wen
            Gott liebte, dem fügte er kein Leid zu. Warum hatte Gott ihm das ange-
            tan? Ohne Emma war alles nur Leid. Das Leben stellte eigene Regeln auf
            – das Herz brach, aber der restliche Körper lebte einfach weiter. Atmete,
            redete, bewegte sich. Ungerechtigkeit hatte viele Gesichter.
             Emma war ganz still gegangen, an einem Sommermorgen im letzten
            Jahr. Schön sollte er werden, sonnig und warm. Spazieren gehen, Käff-
            chen auf der Terrasse, Ananastorte. Der Sommertag wurde dagegen kalt,
            schmerzhaft und einsam. Sicherlich hatte Emma wie jeder Mensch über
            siebzig ein Zwacken hier und ein Zwicken da gehabt, dennoch hatte es
            nichts gegeben, absolut rein gar nichts, was rechtfertigte, dass sie am Mor-
            gen nicht mehr aufstand. In der Nacht hatte Emma diese Welt verlassen,
            sacht, ohne ihm Bescheid zu geben. Wenigstens die Hand hätte Hermann
            ihr gerne gehalten. So gerne. Nach fast fünfzig Jahren Ehe hätte ihr doch
            wenigstens  die Wärme einer Berührung zugestanden,  das Beisein  des
            Herzens und die letzte Geborgenheit. Molly hatte das auch so gesehen.
            Sie kroch aufs Bett, schmiegte sich an den leblosen Körper und winselte,
            bis Emma abgeholt wurde. Fortan schwieg Molly. Zeit heilte nicht jede
            Wunde. Kein Zureden half. Die Havaneserin schwieg. Irgendwann sah
            Hermann ein, es war der innere Protest gegen die Verwundbarkeit und
            das Gefühl des Verlassenwerdens. Beziehungen endeten mit dem Tod
            und so einzigartig, wie die Beziehung gewesen war, so einzigartig war
            auch die Trauer. Das Bündnis von Molly und Emma: Niemals würde sie
            ihr Sterben hinnehmen. Niemals.
             »Molly, was meinst du, wollen wir schneller laufen?« Die Hündin nahm
            den Weg auf und tapste in Richtung Deich. Vor der Treppe verharrte die
            Havaneserin. Hermann verstand, bückte sich und hob die Dame auf den
            Arm. Schon nach der Hälfte der Betonstufen bemerkte der Rentner eine
            Veränderung. Er blieb stehen und drückte Molly an sich. »Merkst du das?
            Irgendetwas fühlt sich komisch an.« Schwere Luft drückte, die Stimmung


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