Page 16 - Eva Holzmair: Der Verdrüssliche (Leseprobe)
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ist allerdings fragwürdig. Wann hören die Fachleute end-
lich auf mit dem G’schichterl, dass der Verdrüssliche Ende
des 19. Jahrhunderts vom Wiener Architekten Camillo Sitte
erworben wurde? Dafür gibt es nicht den geringsten Hin-
weis. Carola hat das mehrmals überprüft. Unter dem von
Sitte initiierten Ankauf von zehn Alabasterköpfen durch
die Wiener Staatsgewerbeschule war er dezidiert nicht, der
Mann mit dem ungewöhnlich langen Nackenhaar. Einer der
besten Charakterköpfe Messerschmidts, und diese Deppen
ließen ihn ziehen! Das stinkt zum Himmel.
- Schon wieder die!
Carola sieht gerade noch, wie die jungen Leute von vor-
hin in den angrenzenden Saal hasten. Ist sie das Schreckge-
spenst, vor dem sie flüchten? Oder haben die Italiener, die
nun hinter einem Fremdenführer hereindrängen, die bei-
den verscheucht? Übergangslos stimmt der Mann seine mit
zahlreichen -issimo, -issima, -issimi durchsetzte Suada an,
während die Menschentraube um ihn herum ständig wächst.
Als die letzten versprengten Mitglieder seiner Gruppe ein-
trudeln, marschiert er bereits weiter, ohne den Gipsabguss,
vor dem Carola steht, überhaupt erwähnt zu haben. Und
dabei hätte sich diese Kopie durchaus einen Superlativ ver-
dient, gibt sie doch recht gut das Original wieder, dessen
verkniffenen Mund sie einst berührt hat.
Carola hätte den Getty-Experten auch sonst einiges
sagen können, nicht nur, bei wem der Verdrüssliche jah-
relang im Salon stand. Erstmals gesehen hat sie ihn dort
im Sommer 1962. Da hatte sie den Wiener Antiquitäten-
händler bereits gut gekannt und geglaubt, er wäre ‚ihr Wil-
fried‘. Dumme Gans! Carola spürt, wie ihre Stirn heiß wird,
so sehr ärgert sie ihre damalige Naivität noch heute. Wie
konnte sie nur annehmen, dass dieser Mann sie liebte, sie,
die unbedeutende Studentin, die gerade an ihrer Doktor-
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