EINGESPERRT!? Reiselust und Reisefrust in der DDR

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Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDRAutorin: Waltraud Seidel
Format: Taschenbuch, eBook
Seitenanzahl: 180 Seiten
Verlag: Karina Verlag
Auflage: 1 (2019)
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3966610483
Altersempfehlung: Ab 14 Jahre, Erwachsene

Website von Waltraud Seidel

Klappentext:

Ja, wart ihr denn nicht eingesperrt? Ansichtssache! Wer unbedingt in den Alpen klettern, Paris, oder gar New York sehen wollte, der fühlte sich wohl eingesperrt.

Wer stattdessen die Berge der Hohen Tatra besteigen, im Moskauer Bolschoi-Theater „Schwanensee“ erleben oder am Balaton und am Schwarzen Meer seinen Badeurlaub verbringen wollte, für den gab es auch als DDR-Bürger wunderschöne Urlaubserlebnisse.

Eingesperrt oder eingeschränkt? Der Leser mag selbst entscheiden.

Über die Autorin Waltraud Seidel:

Waltraud Seidel (Autorin)1942 in Breslau geboren, musste sie als Zweijährige infolge des Krieges aus der schlesischen Heimat flüchten. Im ostthüringischen Altenburg fand die Familie nach monatelangem Umherirren eine zweite
Heimat. Hier verlebte sie Kindheit und Schulzeit, die 1960 mit dem Abitur abschloss.

An der Universität Leipzig studierte sie Germanistik und Slawistik und schloss 1965 mit dem Staatsexamen als Oberstufenlehrerin für Deutsch und Russisch ab.

Nach Eheschließung und Geburt ihrer Tochter folgten wissenschaftliche Aspirantur und Lehrtätigkeit an der Leipziger Universität. 1977 schließlich die Promotion zum Dr. paed. im Bereich des Literaturunterrichts.

Bis 1990 Lehrtätigkeit als Dozentin für Literatur am Institut für Lehrerbildung in Altenburg, danach an der dortigen Fachschule für Sozialpädagogik. Schließlich Schulbuchautorin für den Verlag Volk und Wissen/Cornelsen.

Als freie Schriftstellerin veröffentlicht sie seit 2014 sowohl Autobiografisches als auch Kinderbücher.

Leseprobe aus „EINGESPERRT!?

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDRVORWORT

Mit der Lektüre nur einer Seite aber sind richtige Leseratten nicht zufrieden. Und die DDR hatte viele Leseratten, die das WELTBuch erkunden wollten und auch einen Teil dessen erkundet haben. Doch kann so eine Leseratte die obersten Regalteile nicht erreichen, dann wählt sie ihren Lesestoff eben aus erreichbarer Höhe.

Aber sie liest und liest und liest. Und genau so hatten es die Reiselustigen der DDR gemacht. Sie bereisten die Weltteile, die sie erreichen konnten. Sie fuhren nach Prag statt nach Paris, nach Krakau statt nach London und zum Baden ging es an den Balaton statt nach Mallorca. Und genau darüber, über Reiselust und Reisefrust vieler DDR-Bürger erzählt dieses Buch.

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IM GEFÄNGNIS

„Es geht ein Schritt so leise, als wär’s ein letzter Schritt. Der Wind dreht sich im Kreise, das welke Laub zieht mit.“

Was habe ich es geliebt, Bechers Gedicht „Herbstweisen“. In unseren Lesebüchern war es schon Schülern der 6. Klasse zugänglich. Noch immer läutet es für mich den Herbst ein. Ein Herbst, der leise, behutsam die letzten Sommertage verdrängt. Dachte Becher dabei auch an den Herbst des Lebens? Welches „Sommerglück“ ist es, das von Ferne in uns nachsummt? Das Glück sommerlicher Erlebnisse und sonnenverwöhnter Tage? Das Glück einer gemeinsamen Zeit?

Wie weit musste es von Becher entfernt sein, dieses nachsummende Sommerglück, als er im Juli 1957 nicht aufstand gegen Ulbrichts gänzlich unberechtigte Anschuldigungen gegenüber Walter Janka, bis dahin Leiter des renommierten Aufbau-Verlages und als solcher J.R.Becher freundschaftlich verbunden.

Ursache war der Ungarn-Aufstand im Jahre 1956. Anna Seghers, J.R. Becher und Brechts Witwe, Helene Weigel, sorgten sich um den befreundeten Ungarn Georg Lucacs, Literaturwissenschaftler und als solcher einer der Autoren des Aufbau-Verlages. Es schien wichtig, ihn aus dem ungarischen Politik-Wirrwarr nach Deutschland in zumindest relative Sicherheit zu bringen. Von jenen überredet, hatte sich Walter Janka zu diesem gefahrenträchtigen Vorhaben bereit erklärt. Wohl organisiert vom Kulturminister Becher selbst, sollte es diesen Versuch wert sein.

Doch dann plötzlich das Veto von höchster Stelle. Walter Ulbricht, persönlich kein Lukacs- Freund, hatte es untersagt. Für Janka schien das damit erledigt, hatte er doch Sorgen genug wegen der Verhaftung seines Cheflektors Wolfgang Harich. Konterrevolutionäre Umtriebe waren dem zur Last gelegt worden, bestraft mit zehn Jahren Zuchthaus. Doch Harich allein genügte der Staatssicherheit nicht. Nach monatelanger Kleinarbeit unterstellten deren Untergrund-Mühlen auch Walter Janka staatsfeindliche Konzeptionen und konspirativ – umstürzlerische Pläne nach ungarischem Vorbild.

Seine von Ministerhand vorbereite Ungarn-Reise war der gesuchte Anlass. Im Juli 1957 wurde Walter Janka in einem Schauprozess vom Obersten Gericht der DDR zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt…

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Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDRPOLEN 1967/ 68
Von Jelenia Gora über Wroclaw bis Bydgoszcz

Studienzeit – Arbeitszeit! Reisezeit? Kaum! –

Okay, einmal Studentenlager in Zingst an der Ostsee. Wieder zu zweit, diesmal jedoch nicht mit Moni. Die Zelterfahrungen aus der Tatra wirkten nach. Nach gut vier weiteren Jahren dann unsere Hochzeitsreise nach Caputh nahe dem Schwielowsee, Zeltplatz „Himmelreich“. So gehört es sich schließlich für Hochzeitsreisende. Das übergeordnete Himmelreich hatte jedoch kein Einsehen, es schickte Dauerregen, fast zwei Wochen lang. Unsere derart auf Problemzeiten vorbereitete Ehe hielt und hielt und hielt. Das Ausland musste warten, geduldig! Zunächst bis zum Sommer 1967.

Unser Institut, in dem ich seit dem Abschluss des Studiums arbeitete, hatte ein polnisches Partnerinstitut im niederschlesischen Jelenia Gora, ehemals Hirschberg. Mit den dortigen Kollegen gab es einen Urlauber-Austausch. Während der Semesterferien stellten wir gegenseitig unsere Studenteninternate zur Verfügung, – preiswerte und gut bewohnbare Urlaubsdomizile. Sofort waren wir dabei, jetzt konnte ich Schlesien kennenlernen, meine einstige Heimat. Ein Kollege hatte in seinem Trabi noch zwei Plätze vakant, seine Frau stammte aus Bromberg, dem heutigen Bydgoszcz, das passte. Gemeinsam wollten wir erkunden, was Hitlers Krieg uns genommen…

Ausführliche Leseprobe >>>

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR (Leseprobe)

EINGESPERRT!? – Illustrationen aus dem Buch

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR (Foto)

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR (Foto)

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR (Foto)

Waltraud Seidel: EINGESPERRT!? - Reiselust und Reisefrust in der DDR (Foto)

Buchempfehlung:

EINGESPERRT hinter dem „Eisernen Vorhang“ – Das ist für viele der erste Gedanke, wenn sie an die Reisemöglichkeiten der Menschen im „Realsozialismus“ denken. Trotz aller Einschränkungen galten die Bürger der ehemaligen DDR als reisefreudig. Sie erkundeten jene Teile der Welt, die ihnen zugänglich waren – und das waren gar nicht so wenige Länder. Für manche ergaben sich auch Gelegenheiten, den „Westen“, mit dem sie viele Sehnsüchte und Träume verbanden, zu besuchen.

In diesem Buch hat Waltraud Seidel ihre eigenen Reiseerlebnisse zu Zeiten der DDR beschrieben und in ihren Erzählungen einiges über die historisch-politischen Hintergründe und Lebensbedingungen im „Arbeiter- und Bauernstaat“ eingearbeitet. Bei vielen DDR-Bürgern werden die Geschichten alte Erinnerungen wachrufen. Für Leser/innen, die ihr Leben im Westen verbracht haben oder sich aufgrund der späten Geburt gar nicht an die Jahre vor dem Fall der Mauer erinnern können, ist dieses Werk ein spannendes und aufschlussreiches historisches Dokument einer Zeitzeugin. Die Reiseerlebnisse erweisen sich als geeigneter Rahmen, in dem die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des DDR-Alltags sowie die Bedürfnisse, Freuden und Frustrationen vieler Menschen abgebildet werden.

Mit ihrem lebhaften und kurzweiligen Erzählstil ist es der Autorin auf einzigartige Weise gelungen, ein Stimmungsbild des Lebens in der DDR mit seinen vielen Facetten zu vermitteln und mit informativen Schilderungen von sehenswerten Städten und zu verbinden. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch viele Leser/innen findet, da es auf unterhaltsame Weise einen wesentlichen Abschnitt europäischer Geschichte illustriert und ganz gewiss auch zum besseren Verständnis der Menschen im früheren Osten Deutschlands und Europas beiträgt.

[Martin Urbanek]


Waltraud Seidels Stasi-Akte:

Republikflucht war im offiziellen DDR-Sprachgebrauch die Bezeichnung für das illegale Verlassen des Landes. Nach § 213 StGB wurde der ungesetzliche Grenzübertritt mit Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren, in schweren Fällen mit bis zu acht Jahren geahndet. In den 80er Jahren wurden deswegen schätzungsweise jährlich 1500 bis 2000 Personen inhaftiert. Zwischen August 1961 und Oktober 1989 flohen knapp 95 000 Menschen, über 800 von ihnen bezahlten ihren Fluchtversuch aufgrund des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze mit dem Leben.

Eine Stasi-Akte, die Waltraud Seidel nach der Wende einsehen konnte, bezog sich auf Aussagen von Denunzianten, die ihr eine „ablehnende Haltung zu den Reiseeinschränkungen der DDR“ und unterstellten. Damit kam sie in den Verdacht, Republikflucht zu planen und wurde von Organen der DDR-Staatssicherheit observiert.

Im Folgenden erzählt Waltraud Seidel, was sie in ihrer Stasi-Akte vorfand, und wie die Denunzianten ihr Vertrauen missbrauchten.

* Die Seitenangaben beziehen sich auf Textpassagen in ihrem Buch „EINGESPERRT!?“.

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“Reiselust und Reisefrust” – beides thematisiert mein “Eingesperrt!?”-Buch.

Ja, Frust kam auf bei den endlosen Grenzschlangen, bei den intensiven Grenzkontrollen, auch an der Straßengabelung Wien – Bratislava, die mir nie mehr als einen sehnsuchtsvollen Blick Richtung Wien erlaubte. Meine auch im Buch immer wieder erwähnte Wien-Sehnsucht wurde den Organen der DDR-Staatssicherheit übermittelt als “offen ablehnende Haltung zu den Reiseeinschränkungen der DDR”. Wie das?

Die Einsicht in die über mich geführten Akten der Staatssicherheit ergab, dass ich seit 1985, der erfolgten Ausreise meiner Schwester und Familie in die BRD, kontinuierlich überwacht und bespitzelt wurde. Nach dem Hinweis eines tschechischen Campingfreundes (s. S.155) nutzten wir seither im Ungarn-Urlaub keinen offiziellen Campingplatz mehr wegen der dortigen “Urlauber im DDR-Staatsdienst“. Und tatsächlich gab es auf diese Weise “…bei Ablauf der Frist von 15 Tagen am 30.8.1987 kein Ergebnis durch Fahndung”. (s.S. 166) Die hatte uns tatsächlich gesucht und nicht gefunden, wir campten seither in einem privaten Garten.

Viel entsetzlicher war für mich jedoch die Erkenntnis über jene operativen Beobachtungen, verschiedene IMs waren auf mich angesetzt worden. Für mich nicht vorstellbar, dass sich eine “Dame” über meine Tierliebe mein Vertrauen, ja meine Freundschaft erschlichen hatte. So wurde ich im privaten Rahmen über unsere familiären Treffen provozierend und detailliert befragt und das weitergemeldet.

Meine so erfragte Meinung wurde als schriftliche Denunziation den Organen der Staatssicherheit weitergegeben und beispielsweise derart beurteilt: “…ließ sie erkennen, dass sie sehr westlich eingestellt ist…” Vieles auch erstunken und erlogen, so dass wir in der Vergangenheit geplant hätten, “die DDR illegal zu verlassen”. Aus meiner einstigen privaten Erzählung über unsere Rücktour aus Bulgarien mit Halt am Eisernen Tor, wo die Donau als Grenzfluss zwischen Rumänien und Serbien fungiert (s. S. 152) und meiner Bemerkung “Ja, wenn man da hinüberschwimmen könnte!”? entstand “…die Absicht, ein illegales Verlassen der DDR zu begehen. Zu diesem Zweck haben sie sich mit dem genauen Grenzverlauf vertraut gemacht …, sie wollten die Donau durchschwimmen.” (aus IM-Bericht vom 23.6. 1987)

NEIN! Wir hatten nie ernsthaft daran gedacht, die DDR zu verlassen. Verändern wollten wir sie, verändern!

[Waltraud Seidel]

Aus der Stasi-Akte über Waltraud Seidel

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